Obermayer German Jewish History Award

„Es ist für mich, als würde ich Mosaiksteine sammeln, um ein großes Gebäude zu bauen ...“

Egon Krüger

Pasewalk, Mecklenburg-Vorpommern

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Egon Krügers Interesse an der jüdischen Geschichte wurde schon als Kind geweckt. Aufgewachsen in den 1940er Jahren auf der Ostseeinsel Rügen, erinnert er sich an einen Freund seines Vaters, Adalbert Bela Kaba-Klein, dem das örtliche Kurhaus gehört hatte und der Geschichten über das Überleben unter der Naziherrschaft im Zweiten Weltkrieg erzählte. Krügers Eltern waren als Bauern vor dem Krieg mit vielen jüdischen Geschäftsleuten in ihrem Dorf befreundet gewesen und „kannten also das Leben mit jüdischen Mitbürgern“, erzählt Krüger.

Viele Jahre später, 1962, erinnerte ihn eine zufällige Entdeckung an diese Geschichten und weckte seine Neugier. Nach dem Studium der Chemie und Biologie an der Universität Greifswald war er zu der Zeit als Gymnasiallehrer im nahe der polnischen Grenze gelegenen Pasewalk in Mecklenburg-Vorpommern tätig.

Dort stieß er auf einen Gedenkstein für Paul Behrendt, einen angesehenen Bürger und Besitzer einer Eisengießerei, dessen jüdische Familie eine wichtige Rolle für die Entwicklung Pasewalks im 19. Jahrhundert gespielt hatte. „Der Schuldirektor sagte, man sollte sich für Lokalgeschichte interessieren. Wichtig wäre dabei aber auch, sich um die jüdische Geschichte zu kümmern“, sagt Krüger, der dadurch zu weiteren Recherchen angeregt wurde. Was sich dabei offenbarte, entwickelte sich zu einer lebenslangen Passion.

Bis 1812 hatten nur zwei Juden in Pasewalk gelebt. Ein Edikt des preußischen Königs erlaubte danach jedoch die weitere Ansiedlung von Juden, sodass die Bevölkerung rasch wuchs. 1830 lebten bereits mehr als 100 Juden in der Stadt. 1834 wurde eine Synagoge erbaut, kurz darauf ein jüdischer Friedhof eingerichtet. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebten um die 300 Juden in Pasewalk, die mehr als 5 Prozent der Einwohner ausmachten und damit die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Pommern bildeten. „Juden waren gleichberechtigt, sie waren anerkannte Bürger und leisteten wesentliche Beiträge zur Gemeinschaft als Händler, Ärzte, Anwälte, Fabrikbesitzer und [in] anderen Berufen. Sie spielten eine wichtige Rolle für die Wirtschaft“, sagt Krüger.

Kaum jemand in der Stadt kannte zu der Zeit noch die Geschichte dieser Menschen. Krüger machte sich daran, mehr in Erfahrung zu bringen. „Nachdem ich mit meinen Recherchen begonnen hatte, kontaktierte ich Juden in aller Welt. Meine Arbeit wuchs immer weiter, und ich merkte, wie dankbar die Menschen für meine Entdeckungen waren – das gab mir die Motivation zum Weitermachen.“

Krüger dokumentierte das Leben der ehemaligen jüdischen Bürger von Pasewalk mit größter Sorgfalt. Er hielt Vorträge, schrieb Artikel, war Gastgeber für jüdische Familientreffen und leitete Führungen durch das jüdische Pasewalk. Aus seinen Aktivitäten entstand ein wachsendes Netzwerk von Beziehungen zu Angehörigen von Bürgern aus der Vorkriegszeit.

„Meine Arbeit fand öffentliches Interesse und brachte die Menschen zum Nachdenken über die Vergangenheit, über die sie vorher schlicht gar nichts gewusst hatten“, erzählt Krüger. „Bei Führungen für Schüler merke ich immer, wie sehr sie sich für das Thema interessieren. Sie hören dann immer so aufmerksam zu, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Und das ist für mich ein sehr positives Zeichen.“

Ab 1985 war Krüger als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Medizinischen Fakultät der Universität Greifswald tätig. Nach seiner Pensionierung im Jahr 2002 intensivierte er sein Engagement, um die Vergangenheit aufzudecken und in der Öffentlichkeit zu vermitteln, welchen Beitrag die Pasewalker Juden geleistet hatten. Für den heute 81-Jährigen ist die größte Motivation das Bestreben, sein Werk zu vollenden, „bevor die nächste Generation es vergisst. Wenn wir es nicht jetzt tun, während man noch mit Zeitzeugen und den Menschen jener Zeit sprechen kann, ist alles verloren.“

Krüger hat sich unermüdlich für das Gedenken an das Leben der Juden von Pasewalk eingesetzt, die im Holocaust ermordet wurden, und alle 78 Stolpersteine initiiert, die heute in den Straßen der Stadt zu sehen sind.

Darüber hinaus hat er zwei Bücher über die Pasewalker Juden geschrieben: Jüdisches Leben in Pasewalk, eine detaillierte Chronik der Familiengeschichten und Schicksale von Pasewalker Juden und ihren Nachfahren, erschien im Jahr 2009. Das 2017 veröffentlichte Werk Zur Geschichte der jüdischen Bürger in Pasewalk umfasst eine Fülle von Archivmaterial, wie Fotos, Dokumente, Briefe und Annoncen. Es zeichnet ein vollständiges historisches Bild des jüdischen Vermächtnisses der Stadt.

Im Jahr 2005 konnte Krüger anlässlich der Verlegung von Stolpersteinen für die Familie Behrendt mehr als 30 Nachfahren der Familie in Pasewalk begrüßen, und seine Recherchen waren von entscheidender Bedeutung für die Vervollständigung der Familienbiographie der beiden Enkelinnen von Paul Behrendt.

Obwohl er in einem östlichen Bundesland lebt, wo der Rechtsextremismus derzeit wächst und einige Mitbürger seiner Arbeit offen feindlich gegenüberstehen und ihn sogar bei Vorträgen einzuschüchtern versuchen, reagiert Krüger auf Drohungen nur mit einem Schulterzucken. „Ich bin so bekannt in Pasewalk, dass sich selbst diese Rechtsextremen niemals trauen würden, mir etwas anzutun. Ich kann sogar mit ihnen reden“, sagt er. „Bei einer Veranstaltung in einem Nachbarort, wo ich im Stadtparlament über die Stolpersteine sprach, fragte mich ein Politiker der Rechten: ,Wenn ich einen Stolperstein stifte, bekomme ich dann auch eine Spendenbescheinigung für das Finanzamt?‘ Ich sagte nur ,Ja, natürlich‘, und alle waren höchst erstaunt, dass diese Konversation überhaupt stattfand.“

In der Reichspogromnacht wurde die jahrhundertealte Pasewalker Synagoge niedergebrannt und der Friedhof zerstört. Die letzten Pasewalker Juden wurden am 12. Februar 1940 in die Konzentrationslager deportiert. Das war das Ende der jüdischen Gemeinde der Stadt. Heute stehen vom Friedhof nur noch die Mauern, es gibt keine Grabsteine mehr. 1988 initiierte Krüger anlässlich des 50. Jahrestags der Reichspogromnacht eine Gedenktafel am Standort der ehemaligen Synagoge. Und im November 2018 wurde auf Krügers Initiative und mit Unterstützung der örtlichen Kirche und des Bürgermeisters ein Gedenkstein eingeweiht.

„Dr. Krügers Arbeit ist von unschätzbarem Wert für die Vermittlung der Geschichte der Juden in Deutschland gegenüber der Nachkriegsgeneration“, sagt Irene Black, eine Enkelin von Paul Behrendt. Derzeit sammelt Krüger Daten für weitere Familienstammbäume von Pasewalker Juden zur Veröffentlichung. Und er schreibt und veröffentlicht auch weiterhin Zeitungsartikel, nach wie vor angetrieben von dem Wunsch, die noch ungeschriebenen Familiengeschichten zu erzählen und der nächsten Generation zu vermitteln.

„Solange es meine Gesundheit erlaubt, werde ich weitermachen. Die Arbeit macht mir große Freude und gibt mir so viel, weil es mir dadurch gelingt, die Menschen vor Ort in diese Projekte einzubinden. Ich fühle keinen Druck, es ist alles freiwillig – das ist meine Passion. Es ist für mich, als würde ich Mosaiksteine sammeln, um ein großes Gebäude zu bauen, und ich bin immer noch dabei. Es gibt für diese Art der Arbeit kein Ende, weil man immer noch kleinere Steine hinzufügen kann.“

 
 

EINE MAUER, DIE VERBINDET

Im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre haben Schülerinnen und Schüler einer Berliner Grundschule am Standort einer ehemaligen Synagoge Stein für Stein eine Mauer errichtet, die eine starke Botschaft zur Bedeutung von Gemeinschaft vermittelt.

 

VON SCHÜLERN FÜR SCHÜLER

Als eine Gruppe von Neuntklässlern im Jahr 2003 Rolf Joseph begegnete, waren sie von seinen Erzählungen vom Überleben im Holocaust so beeindruckt, dass sie sich intensiv mit seinem Lebensweg auseinandersetzten und ein erfolgreiches Buch über ihn schrieben. Heute regt die Joseph-Gruppe Schulklassen dazu an, sich ebenfalls mit der jüdischen Geschichte zu befassen.

 

„ICH SPRECHE FÜR DIE MENSCHEN, DIE NICHT MEHR FÜR SICH SELBST SPRECHEN KÖNNEN“

Margot Friedländer beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie als Jüdin in Berlin den Zweiten Weltkrieg in Verstecken überlebte. Heute ist sie 96 Jahre alt und spricht eindrucksvoll über die Ereignisse, die ihr Leben prägten, und ihre Relevanz in der heutigen Zeit.